Geschichte der Architektur und Bildhauerei in Venedig 69 71

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kann; auf den unbefangenen, nicht analysirenden krittelnden Beschauer macht der Anblick dieser Kirche einen überwältigenden, zauberhaft ergreifenden und hinreissenden Eindruck und auf den ersten Anblick glaubt man den Bau in einem ganz besondern, vorher nicht gekannten Stil ausgeführt, während bei näherer Betrachtung die Elemente der einzelnen daran vertretenen Stile allmälig sich sondern und die Entstehungsweise dieses Baues ahnen lassen.
Hier zeigen sich Kapitäle, die aus Torcello oder Altinum stammen müssen, so viel Aehnlichkeit haben sie mit dort gefundenen ; dort stehen Säulen aus Spalato, da ist ein Detail, welches an Ravenna, dort ein anderes, was an die byzantinischen Kirchen Athens erinnert etc. ; wenn man alle diese Details ihrer Heimath nach zergliedert, und auf solche Forschungen gestützt, sich die Geschichte des Baues dieser Kirche zusammenstellt, so tritt die Wichtigkeit der so vielfach hin und her erwogenen und bestrittenen Frage ganz in den Hintergrund, ob, wie oft und wie viel Bildhauer und Musaicisten zu diesem Bau aus Constantinopel verschrieben worden sein mögen. Es waren deren gar nicht sehr viele nöthig; in der Technik waren die Venetianer selbst weit genug vorgeschritten, um die Säulen und Kapitale, die, schon vorhandenen vielleicht schon längst zerstörten Gebäuden entnommen, fix und fertig in Venedig ankamen, zurecht zu arbeiten und zu versetzen. Eine ganz andere Frage drängt sich uns dafür auf und leider eine Frage, zu deren Beantwortung uns alle Chroniken und Archive bis jetzt noch nicht die Möglichkeit geboten haben, die Frage: Wer war der geistreiche, überaus fähige Architekt, der es vermochte, erst eine so grosse und doch nicht erdrückende, so vielfach gegliederte und doch so einfach klare Idee, wie sie dieser Kirche zu Grunde liegt und vorher noch nirgends da war, zu concipiren und dann dieselbe trotz des ihm gebotenen Materials so harmonisch auszuführen; ich sage nicht mittelst, sondern trotz, denn für jeden schaffenden Architekten wird es ein Hemmniss, ein sehr unangenehmes Hemmniss sogar sein, wenn er die Details zu seinen Gebäuden nicht selbstständig aus der Hauptdisposition derselben entwickeln darf, sondern vorhandene benutzen muss. Wenn aber, wie es hier der Fall war, nicht alle die nöthigen Details auf einmal ankommen, aber auch nicht gleichartige zugleich, sondern bald das bald jenes, Alles aber in so überwiegender Masse, dass das Bedürfniss an Ornamenten, das der Bau bietet, mindestens um das Vierfache überstiegen wird, dann gehört wirklich ein mehr als gewöhnliches Talent dazu, diese zum Theil dem Werk ganz fremden, systemlos gelieferten Details so zu verwerthen und zu vertheilen, dass die Schönheiten der einzelnen zur Geltung kommen, ohne dem Ganzen Schaden zu thun. — Selvatico glaubt

 

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