S. 292
branleglieder sind flach und ausdruckslos, beinah mager profilirt, und stehen im Ganzen viel zu weit vor der glatten Mauerfläche vor; an den kleinen Säulchen sind die Capitäle, gar nicht venetianisch, sondern bestehen aus rein deutschgothischen Krappen, welche, aus dem runden Schaft herauswachsend, sich unter die vier Ecken des Abakus legen; noch stärker tritt dieses unvollständige Eingehen in das Wesen der venetianischen Gothik da hervor, wo es sich neben den Formen noch um Farbengebung handelt. Die Polychromie des Mittelalters ist eine ganz andere, als die der Antike, und sehr fehlerhaft ist es, eine in mittelalterlichem Styl entworfene Façade nach den Gesetzen antiker Polychromie bemalen zu wollen. Die Griechen bemalten fast blos die inneren Wände in ganzen Flächen mit Darstellungen theils architectonischen, theils figürlichen Inhalts. Den Aussenflächen Hessen sie weniger eine Bemalung als vielmehr eine Colorirung angedeihen. Die äusseren Wandflächen finden wir an Tempeln und Häusern bei den Griechen sowohl, als bei ihren Schülern, den Römern, blos mit einem ganz glatten Anstrich versehen, höchstens in Quadern eingetheilt und zwar in der Regel in dunkeln, oft sogar in todten Farben; das Simswerk hingegen, die Säulen und Pilaster hielten sie ziemlich hell in der Hauptfärbung und nur einzelnen schon durch die Form angedeuteten Gliedern suchten sie durch lebhafte, oft helle, oft auch dunkle Farbe eine besondere Geltung oder grössere Verzierung zu verschaffen. So sind z. B. die Trigliphen an den Tempeln zu Agrigent und Selinunt teils weiss, theils gelb mit blauen, resp. rothen Schlitzen, die Sima findet man mit gemalten Palmetten, den Taubenschnabelcarniess dorischer Pilaster mit gemalten stehenden Blättern, Rundstäbe mit gemalten Perlen besetzt; so waren fast stets die eigentlich wichtigen tragenden Theile der Architectur hell, die aussfüllenden, als Hintergrund dienenden Flächen ruhig dunkel, die rein verzierenden Theile mit lebhaften, bunten, in der Regel, doch nicht immer ungemischten, niemals tiefen Farben versehen. Bei der mittelalterlichen Polychromie treten uns ganz andere Gesetze entgegen, welche übrigens auch hier ebenso wie in der Antike in den verschiedenen Ländern etwas variiren. Während in der Antike, wenigstens soweit die bisherigen Forschungen reichen, die Tempel äusserlich reicher als innen gemalt waren, doch beiderseits die architectonische Malerei über die figürliche vorherrschte, die Wohnhäuser jedoch ihren reichsten Farbenschmuck innerlich entfalteten und das Figürliche dabei schon eine grössere Rolle spielte, wurden im Mittelalter die Gotteshäuser innerlich, die Wohnhäuser äusserlich vorzugsweise mit Malerei bedacht. Dabei spielt in den Gotteshäusern fast in allen christlichen Ländern die figürliche Malerei eine Hauptrolle, nicht so bei den Wohnhäusern; in Deutschland allerdings