Geschichte der Architektur und Bildhauerei in Venedig 10 12

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stuhl sich darzustellen und von seinem Tisch zu essen, Gebäude benutzt, oder wenigstens eine Gebäudeform adoptirt, die zu ähnlichen, freilich mehr weltlichen Zwecken geschaffen ist, besonders wenn diese Form fähig gefunden wird, theils durch Veredelung der Verhältnisse, durch Symbolisirung, theils durch Hinzufügung ganz neuer Elemente, z. B. der absondernden heiligenden Vorhalle mit dem Reinigungsbrunnen, des Altars mit dem Tabernakelüberbau etc. aus dem Bereich des Weltlichen in das des Heiligen gezogen zu werden, wenn aus der Στοα βασιλιχή eine Στοα χνςιαχή, aus der Königshalle eine Halle des Herrn, aus der Handelsbasilike eine Kirche herausgebildet werden kann.
In analoger Weise, wie für die Pfarr- und Abendmahlskirchen die Form der Basiliken, wurde für die Grabkirchen der Märtyrer, die Martyrien und für die Stätten, wo man über die Todten taufte, die Baptisterien, in der Hauptsache die centrale Form der Mausoleen adoptirt, aber freilich nicht mehr blos als schöne Hülle eines Sarkophags, nicht mehr blos von aussen herein, sondern als Stätte für eine heilige Handlung von innen herausgebildet,
So war denn eine neue Idee in die Kunst eingedrungen, eine neue Bahn den Künstlern eröffnet, darauf sie sich nahen konnten dem Ideale, aber obgleich sie wohl die Strasse vor sich liegen sahen und, wie aus der durchgebildeten Symbolik der damaligen Zeit, aus den oft sehr genialen Ideen, die ihren Gemälden und Reliefs zu Grunde liegen, hervorgeht, mit regem Eifer darnach strebten, auf dieser Strasse, vorwärts zu schreiten, so fehlten ihnen doch Technik und Wissenschaftlichkeit. Diese beiden, dem bildenden Künstler unerlässlichen Dinge, die bei dem Sturz der sie tragenden heidnischen Hierarchie mit zu Grunde gegangen waren , konnten bei dem schnellen Wechsel der weströmischen Kaiser, bei dem immerwährenden Eindringen fremder Stämme unter rohen Eroberern (400 Alarich, 405 Rhadagaïs, 408 abermals Alarich etc.) ebensowenig wieder erworben werden, als nationale Individualität, welche durch die lange Handhabung des römischen Verwaltungssystems in dem riesigen Gebiete des Römerreichs fast ganz verwischt worden war, sogleich wieder aufleben konnte, daher sich auch erst später die Elementarformen der orientalischen und occidentalen Weise als solche trennen.
Als Beispiel für diese Unklarheit, für diese un vollbrachte Sonderung so heterogener Elemente ist das Baptisterium der Kathedrale von Ravenna1) S. Giovanni in Fonte vom Jahre 425 von besondrer Wichtig-
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1) Manchen unsrer Leser mag es befremden, Ravenna, eine ausserhalb des venetianisehen Gebiets liegende Stadt, hier erwähnt zu finden. Ravenna liegt aber der alten Venetia so nahe und hat so lange unter Römerrn, Gothen und Bizanti-

 

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