Geschichte der Architektur und Bildhauerei in Venedig 1 3

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Fremdartige abstiess und so die schönsten Blüthen vom Stamme des jedesmaligen Zeitstils abpflückte und in den Kranz ihrer Kunstdenkmale einflocht.
Da nun die Bildnerei, mehr aber noch die Baukunst unter allen Künsten am meisten darauf ausgeht, die Materie als solche zu beleben und deshalb am wenigsten ihre Abhängigkeit vom Raum verleugnen kann, so ist bei Gestaltung des Architectursystems stets die Beschaffenheit des Schauplatzes ihrer Thätigkeit und des zu Gebote stehenden Materials ein sehr wichtiges, vielwirkendes Element. "Wollen wir also logisch verfahren bei Betrachtung der historischen Entwicklung der venetianischen Baukunst und Bildnerei, so dürfen wir nicht verschmähen, vor allem einen Blick auf die Localitäten zu werfen, in welchen diese Entwickelung vor sich gehen soll.
Die Gebirge der Alpen und des Apennin, welche das nördliche Italien umgeben, bilden gewissemassen ein Amphitheater. Alle Gewässer dieser beiden Gebirgsketten haben einen gemeinsamen Ausströmungspunkt. Der Isonzo, die Livenza und der Tagliamento, die von den julischen Alpen herabkommen, die Piave, der Murone, die Brenta, die Adice (Etsch), die von den Schneegebirgen Tirols genährt werden, der Po, den viele Gewässer der Alpen und des Apennins anschwellen, sie alle strömen nach dem westlichen Winkel des adriatischen Meeres und führen Erdtheile mit sich, die sie mit sich fortgerissen und zu deren Niederschlagung sie auf ihrem stürmischen Laufe nicht Zeit gefunden haben.
Indem sie nun ins Meer sich ergiessen, wird ihre rasche Bewegung matter, die Erdtheile, die sie in Masse mit sich führen, sinken zu Boden, ihre Gewässer verlieren an Tiefe und ihre Strömung, minder rasch, theilt sich nun in eine Menge von Armen, die zur Bildung der Deltas und Moräste, die man auf diesem Striche bemerkt, beitragen und endlich das Meer gewinnen, indem sie den letzten, das ganze Becken gegen das Meer hin begrenzenden Landstreifen, das Lido, durchbrechen.
Dieses Lido — eine Kette von schmalen und langgestreckten Inseln, ganz ähnlich der Inselreihe, die den Zuydersee in Holland gegen das Meer abschliesst — schirmt das dahinterliegende niedere Land vor den Wogen der Adria zum grossen Theile durch Sanddünen, an verschiedenen Punkten jedoch durch künstliche Arbeiten, deren wichtigsten die berühmten „Murazzi" an der Insel Palestrina sind.

 

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