Geschichte der Architektur und Bildhauerei in Venedig 182 184

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Mittelschiff ist fast dreimal so breit als die Seitenschiffe; die Pfeiler aber stehen so eng, dass die Joche im Seitenschiff Quadrate bilden; dadurch nun, dass diese zehn Pfeiler mit der Seitenschiffmauer durch Wände verbunden sind, bilden sich an jeder Seite sechs Kapellen, welche mit Kuppeln überwölbt sind, während das Mittelschiff einen sehr schönen freiliegenden Dachstuhl hat. Das hohe Chor bildet nicht ganz ein Quadrat, durch zwei Kreuzgewölbe überspannt, an welches sich mit sieben Seiten eines Zwölfecks der Chorschluss anlegt; die Seitenpfeiler haben ebenfalls polygone Abschlüsse. In Bezug auf die Disposition des Aeussern ist hauptsächlich zu bemerken, dass die Verhältnisse im Ganzen niedriger sind als bei S. Giovanni e Paolo und a Frari, namentlich die Seitenschiffe sind beinahe zu niedrig. Einen Totaleindruck der Kirche zu gewinnen ist sehr schwer, weil blos die Westseite und ein Theil der Südseite freisteht, der Westseite gegenüber aber die Gebäude so nahe gerückt sind, dass man die Verhältnisse dieser Façade eben nur nach Ausmessung derselben richtig beurtheilen kann; man scheint überhaupt mit dem Platz sehr beschränkt gewesen zu sein und war z. B. genöthigt, den ebenfalls sehr versteckten Chorschluss zum Theil auf eine andere Insel, als die Kirche selbst zu setzen, so dass dieser Theil des Baues auf einer Brücke steht. Dadurch wird nicht nur ein sehr malerischer Effect erzeugt, sondern dieser Umstand dient auch zum Beweis, wie weit man damals schon in der Technik vorgeschritten war.
Der neben dem Chorschluss stehende Campanile scheint von demselben Architecten zu sein, wie der der Kirche aï Frari, ja sie sind beinahe Zwillinge zu nennen; da nun letzterer, wie wir sehen werden, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gebaut ist, so möchte man auch von dem zu S. Stefano dasselbe glauben.
Nun steht aber der untere Theil desselben schief, der obere gerade; im Jahr 1345 wurde Venedig durch ein Erdbeben heimgesucht; darauf stützen wir die Vermuthung, dass der Campanile zu jener Zeit schon bis zum Pavillon vollendet war und durch das Erdbeben diese schiefe Stellung erhielt, worauf man dann lothrecht weiter baute.
Bei dem Ziegelbau scheint man in Venedig dasselbe System befolgt zu haben wie bei den Marmorfaçaden, wie wir es z. B. am Tesoro von S. Marco sahen : man vollendete erst den ganzen Bau, Zahnschnitte stehen lassend und setzte dann die gesammten ornamentalen Theile, mochten sie nun aus Formziegeln oder aus Marmorstücken bestehen, an. Ob der Grund zu diesem Verfahren blos in dem Bestreben zu suchen ist, die Kirchen so schnell als möglich unter Dach zu bringen, ohne dass man auf die Vollendung der Verzierungen durch die betreffenden

 

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