Der Dogenpalast in Venedig
Skulpturenprogramm
Es wird an dieser Stelle nur eine Beschreibung der drei Eckskulpturen sowie der achteckigen Kapitelle des Erdgeschosses gegeben. Siehe hierzu auch die
Beobachtungen von Mothes, dem noch die Originale
in situ zur Verfügung standen.
Ein Kapitell (Kopie 19. Jahrhundert), Dezember 2004
An der Südostecke des Palasts zur
Ponte dell Paglia ist der
Sündenfall; an der Ecke zur Piazzetta die
Trunkenheit Noahs und zur
Porta della Carta das
Urteil Salamons dargestellt.
Sämtliche Kapitelle des Erdgeschosses wurden bei den umfassenden Restaurierungsmaßnahme unter Annibale Forcellini gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch gute Kopien ersetzt. Dabei wurde die Fassade mit umfangreichen Substruktionen in Holz abgestützt
5. Die Originalkapitelle befinden im Museum im Erdgeschoß des Palasts - eine sehr sinnvolle Unterbringung; sie sind teilweise durch die Fenster von außen zu sehen.
Weinstockecke an der Ponte della Paglia (Kopie 19. Jahrhundert), Dezember 2004
Kapitelle von der
Ponte dell Paglia zur Weinstockecke (nach John Ruskin):
- Kinderköpfe; Laubwerk; Vogel, der seine Brust bedeckt
- Vogel, der einen Fisch fängt; Vogel, der von einer Schlange bedroht wird; Vogel, der sein Gefieder reinigt
- Köpfe, davon einer bekrönt
- drei Kinder
- Halbfiguren von Kaisern: Titus, Trajan, Avianus Augustus
- männlich und weibliche Köpfe
- Beginn der Darstellungen der Tugenden und Sünden: Freigiebigkeit (Largitas), Beständigkeit (Constantia), Zwietracht (Discordia), Geduld (Patientia), Verzweiflung (Desperacio), Gehorsam (Obidientia), Treulosigkeit (Infidelitate), Bescheidenheit (Modestia)
- Arion auf einem Delphin, Chimären, Zentauren
- Glaube (Fides), Standhaftigkeit (Fortitudo), Mäßigkeit (Temperantia), Demut (Humilitas), Nächstenliebe (Caritas), Gerechtigkeit (Justitia), Klugheit, Hoffnung
- Üppigkeit (Luxuria), Völlerei (Gula), Stolz, Zorn (Ira), Geiz (Avaritia), Trägheit (Accidia), Eitelkeit, Neid
- Vögel
- Trübsal (Miseria), Frohsinn (Alacritas), Torheit (Stultita), Keuschheit, Ehrlichkeit, Falschheit (Falsitas), Ungerechtigkeit, ?
- Löwenköpfe
- Tiere in kauernder Stellung
- Allgemeine Darstellung der Trägheit (?)
- Köpfe
- Griechische Philosophen
- Planeten, Sonne, Mond, astrologische Häuser
- Gekrönte und ungekrönte Köpfe; Kopf mit Turban; ein Steinmetz (?)
- Tierköpfe: Löwe, Wolf, Fuchs, Hund, Bär
- Handwerke
- Lebensalter der Menschen; Einfluß der Planeten auf das menschliche Leben
- Köpfe
- (unterhalb der Wand der Sala del Maggior Consiglio) Geschichte der Heirat
- Monate
- Veränderte Kopie von 15
- Früchte
- Kopie von 7
- Kopie von 9
- Veränderte Kopie von 10
- Kopie von 8
- Bekleidete Figuren
- Kopie von 12
- Kopie von 11
- Kinder mit Vögeln oder Früchten
- Kopie des Laubwerks von 18; Aristoteles, Isidore (?), Solon mit seinen Schülern, Scipios Keuschheit, Numa Pompilius - Kirchen erbauend, Moses - das Gesetz empfangend, Trajan - der Witwe Gerechtigkeit widerfahren lassend
Bei der genaueren Betrachtung fällt bald auf, daß es drei Typen von Kapitellen gibt, die sich in Ausformung des Laubwerks und der Skulpturen unterscheiden. Eine weitere, feine Differenzierung findet durch die Schaftringe statt. Die Kapitelle sind im Rhythmus a,b,c,a,b,c... angeordnet, in der Mitte der Fassade unterhalb des Balkons und vor dem Eingangsportal allerdings mit einer symmetrischen Doppelung.
Detail des Kapitells (Kopie 19. Jahrhundert), Dezember 2004
Nach der unkritischen, positivistischen Interpretation Ruskins, einer Nachwirkung der grundverschiedenen Darstellungen der Geschichte Venedig im späten neunzehnten Jahrhundert6, sind die Kapitelle als wahrhaftige Abbildung der moralischen Prinzipien der venezianischen Regierung zu sehen7. Ohne ins Detail zu gehen ist das Skulpturenprogramm des Erdgeschosses zusammen mit der Figur der Justitia-Venetia an der Schnittstelle der Längswand des Großen Rates mit der Fassade zur Piazzetta als idealisierende Selbstcharakterisierung der Serenissima zu interpretieren. Mit der Portraitierung römischer Kaiser und griechischer Philosophen wird der Versuch gemacht, sich in eine römisch-antike Tradition zu setzen - ein Verhalten, das sich wie ein roter Faden auch durch die Selbstdarstellung der Adelsfamilien ziehen wird.
Arkaden des Obergeschosses zur Piazzetta,
aus: John Ruskin, The Stones Of Venice, London 1851
Von annähernd zeitgleich entstandenen Privatpalästen, Kommunal- und Rathäusern in Italien unterscheidet sich der Dogenpalast grundlegend. War noch beim Vorgängerpalast des Sebastiano Ziani der Befestigungscharakter des Gebäudes evident, so ist dieser beim Neubau durch die durchgehende Auflösung des Erd- Obergeschosses vollständig abgelegt. Der noch auf der Vedute von de'Barbari sichbare Turm am Rio di Palazzo wurde später abgetragen. Die über dem Dachgesims und später auch über der Porta della Carta angebrachten Merlaturen haben keinerlei Wehr-Funktion mehr, sondern dienen nur noch dem Dekorum. Sie wurden später an der Architektur der Privatpaläste des Quattrocento wie dem Palazzo Soranzo van Axel oder dem Palazzo Marcello in Backstein nachgeahmt. Anders als Städte wie Siena oder Florenz war Venedig durch das Wasser vom Feind geschützt. Die im wahrsten Sinn des Wortes offene, feinnervige und konstruktiv gewagte Architektur war politisches Programm: Die Regierung der Republik Venedig bedarf keines festungsartigen Baus, weder nach innen, noch nach außen; sie wird zu keiner Zeit angegriffen. Alle materiellen Angriffe wurden auf dem Wege der Diplomatie abgewehrt. (Diese Aussage der Architektur wird auch von jenem polemischen Diskurs, der im 16. Jahrhundert um den Bau der Festung San Andrea gegenüber der Nordecke des Lido geführt wurde, belegt. Tatsächlich war das Fort, das seine einzigen Gegner in der Aristokratie der Lagunenstadt hatte, verteidigungstechnisch nicht nötig, hätte man doch bereits mit ein oder zwei Schiffen den Zugang vom Meere her an dieser Stelle vollständig blockieren können.)
Anmerkungen
5 cf. Franzoi, Umberto (a cura di): Il Palazzo Ducale di Venezia, Treviso 1990
6 cf. Pemble, John: Venice Rediscovered, Oxford 1996, pp. 73-86 (Kap.
History Rewritten
)
7 cf. Ruskin, John: Die Steine von Venedig, Leipzig 1903-1906 (Reprint Dortmund 1994), tom II, pp. 404ss