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den Venetianern bei der grossen Plünderung Constantinopels im Jahre 1205 hierher gebracht worden seien; aber der Styl deutet, wie schon gesagt, in Einzelheiten auf das 9., in andern Theilen sogar auf das 10. Jahrhundert, Figuren und Ornamente weichen bedeutend von denen des 5. Jahrhunderts ab; dass sie nicht erst 1205 hierhergebracht sein kann, beweist der Umstand, dass die Mittelthüre, eine offenbare Nachahmung derselben, vom Jahre 1112 ist, wie wir später sehen werden. Es ist demnach wahrscheinlich, dass sie schon vorher aus Constantinopel hierher geschafft wurde.
Ebendaher rührt wahrscheinlich die
Palla d'oro, die goldene Altartafel am Hauptaltar, wenigstens in ihren Haupttheilen, den 27 Goldtafeln mit Emaildarstellungen; eine umfängliche Schilderung dieses Palladiums Venedigs werden uns unsere Leser wohl erlassen. Die Gegenstände der Darstellung sind in Kürze folgende:
In der Mitte Christus mit einem Buche in der Hand, umgeben von Engeln, Cherubins und Seraphen; ausserdem Scenen aus dem Leben des Heiligen Marcus, der Transport seines Leichnams nach Venedig etc.; grossen Kunstwerth haben dieselben nicht, sie tragen vielmehr in Zeichnung und Haltung der Figuren sowie im Faltenwurf das Gepräge des ersterbenden byzantinischen Styls in aller seiner Steifheit und Einförmigkeit, in der Ausführung jene ins Kleinliche gehende Feinheit, hinter der die byzantinischen Maler und Emailkünstler des 11. Jahrhunderts, mit Kunstfertigkeit coquettirend, den Mangel an wahrer künstlerischer Befähigung und lebendigem Schönheitsgefühl zu verbergen strebten.
Farben und Textur der auf das Gold aufgetragenen Schmelzstoffe sind mit Ausnahme weniger Farben (eines ungemein tiefen Blau und eines sehr lebhaften Grün, die wir uns nicht erinnern an ähnlichen Werken abendländischer Kunst in solcher Vollkommenheit gesehen zu haben) ganz gleich denjenigen abendländischer Emails der spätromanischen Periode. Die Fassung, bestehend aus Säulchen und Streifen mit Linienverschlingungen von massivem Gold, mit Edelsteinen besetzt, sowie der bronzene Schrein, der sich durch ein Räderwerk scheinbar von selbst öffnet, gehören dem spätern Mittelalter an. Ueber den Zeitpunkt der Anfertigung sind genaue Nachrichten weder in den Archiven, noch in andern Quellen aufzutreiben, und wir begreifen wirklich nicht, woher Kugler erfahren haben will, dass die
Polá d'oro 976 in Constantinopel bestellt wurde.
Die Aussenseite der Schreinthüren scheint allerdings aus Constantinopel zu sein, für das Innere, die eigentliche
Palla d'oro aber, muss dies wenigstens bis zum Auffinden genauer Nachrichten als ungewiss angesehen werden.